Erich Kästner und die Verdichtung des Erlebens in Bildern
von Ursula Klane 12/2024
Erich Kästner wird in seinem Schaffen vermutlich am häufigsten mit dem Schreiben von Kinderbüchern in Verbindung gebracht. Einige seiner Kinderbücher wurden mehrfach verfilmt. Das doppelte Lottchen z.B. wurde 1994 von Regisseur Joseph Vilsmaier in dem Film Charlie und Louise – Das doppelte Lottchen zeitaktuell und interessant verfilmt.
Schon als junger Schriftsteller mahnte Kästner den Missbrauch demokratischer Prozesse und der Individualität des Menschen an, und spornte zum eigenständigen Denken an.
Hier soll seine verdichtete Darstellung in Bildern in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sprache kommen. Kästner arbeitete nach Kriegsende in München, er leitete u.a. das Feuilleton einer Zeitung, brachte eine Kinderzeitschrift heraus und arbeitete in einem Kabarett mit. Teile dieser Arbeiten veröffentlichte er später in Der tägliche Kram – Chansons und Prosa 1945-1948.
Ein Beispiel aus seiner Arbeit für das Kabarett Schaubude aus dem Jahr 1947 ist nachfolgendes Lied.
Das Lied vom Warten
Frühjahr 1947 Schaubude: Noch immer befanden sich Millionen deutscher Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Die Gemütsverfassung ihrer Mütter und Frauen, die oft nicht einmal wussten, wo die Männer waren und ob sie noch lebten, lastete wie ein Alpdruck auf allem und allen. Auch jetzt sind viele Gefangene noch nicht heimgekehrt. ….
Das Lied vom Warten
Eine Frau mit einem selbst gemalten Plakat steht an der Rampe. Auf dem Plakat klebt eine Fotografie. Außerdem steht mit einer Feldpostnummer groß „Hans Maier“ darauf. Hintergrundprospekt: Bahnhofshalle mit heimkehrenden Kriegsgefangenen.
1.
Zwei Jahre wird’s in diesem Mai,
da war der Totentanz vorbei,
da starb das große Sterben.
Wir traten vor das halbe Haus
und sahen nur: Der Krieg war aus.
Und sahen nichts als Scherben.
Doch auf dem Rest vom Kirchturm sang
die Amsel voller Überschwang,
und der Flieder, der blühte im Garten.
Die Bäume rauschten bis ins Blut.
Die Hoffnung sprach: „Es werde gut!
Geduld, mein Herz, Geduld, mein Herz,
dein bisschen Glück muss warten!“
Zwei Jahre werden es im Mai.
Mein Mann, der ist gefangen.
Er ist gefangen, und ich bin frei.
Die Hoffnung ging an uns vorbei.
Die Hoffnung ist vergangen.
…..
2.
Die gleiche, bleiche Wartequal
hockt wie ein Geier überall
und hält uns in den Klauen.
Im Dunst der Stadt, im fernsten Tal –
ganz Deutschland ist ein Wartesaal
mit Millionen Frauen.
Die Amsel schluchzt, die Blumen blühn,
das Korn wird gelb, die Stare ziehn,
und der Winter rupft Federn im Garten.
Ein Mond wird schmal, ein andrer naht,
und rings ums Herz starrt Stacheldraht.
Geduld, mein Herz! Geduld, mein Schmerz!
Wir leben nicht – wir warten!
Wir warten stumm, dass sich die Welt unsrer erbarme.
Schickt sie doch heim.
Schickt sie doch endlich heim in unsre Arme!