Kritische Betrachtung einer Unterrichts-Materialie Politische Bildung Baden-Württemberg

von Ursula Klane, 01/2023

Unterrichts-Materialien sollten in möglichst konkreter, breit informativer und beschreibender Darstellung angeboten werden. Eine möglichst umfassende Information zu einem Thema, die verschiedene Standpunkte berücksichtigt, ist zwar meist aufwändig, aber für eine Unterrichtseinheit an Schulen, die ja einem Bildungsauftrag verpflichtet sind, unerlässlich.

Infolge wird ein Beispiel angeführt, welches oben genannte Kriterien nach Ansicht der Autorin keinesfalls erfüllt.

Der Titel der Unterrichtseinheit heißt Krieg in der Ukraine – Putins Angriff auf den Frieden (aus der Unterrichtsreihe Mach’s klar – Politik einfach erklärt von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg).

Dort sind offenbar nach Ansicht des lbp, der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, die Geschichte des Konfliktes, Streitpunkte und warum gekämpft wird, umfassend bzw. ausreichend dargestellt. Nachfolgend sind das Deckblatt und die Stelle der Unterrichtseinheit, von der hier die Rede ist, abgebildet:

Die Schüler sollen in die vorhandenen Lücken die rot dargestellten Wörter NATO, Warschauer Pakt, 1991, EU, Unabhängigkeit, Neutralität, Macht und Einfluss einfügen. Das Wort „Krim“ ist beispielhaft eingefügt. Das gesamte Heft können Sie sich hier ansehen.

In dieser Darstellung sehe ich keine umfassende Urteilsbildung möglich, die der Komplexität der Sache gerecht werden kann. Um eine eigenständige und eigenverantwortliche Urteilsbildung für Sie als Leser zu ermöglichen, habe ich diese Fragen angeführt:

1. Wie schätzen Sie die Überschrift ein: Krieg in der Ukraine – Putins Angriff auf den Frieden? Bestand vor dem Jahr 2022 Frieden in der Ukraine, und wenn nein, warum nicht (Bezug: Putsch 2014 und die darauf folgende Zeit in der Ukraine)?

2. Seit der Auflösung der Sowjetunion 1991 hat es mehrere NATO-Osterweiterungen gegeben. Manch eine dieser NATO-Osterweiterungen wurden nicht nur von Russland, sondern weltweit von Politikern, Diplomaten, Historikern kritisch betrachtet. Welche Rolle könnten derartige NATO-Erweiterungen im Krieg Russlands gegen die Ukraine spielen? Kennen Sie dazu Artikel oder Zitate? Im Anhang am Ende des Artikels finden Sie Beispiele (Ergänzungen zwischen Mai 2023 und Juli 2024).

3. Wie wirkt die Überschrift dieser Unterrichtsbroschüre auf Sie? Fühlen Sie sich freigelassen?

4. Wie wirkt die Karikatur auf dem Titelblatt auf Sie? Fühlen Sie sich freigelassen? Handelt es sich überhaupt um eine Karikatur?

5. Machs klar – Politik einfach erklärt heißt diese Unterrichtsreihe. Denken Sie, dass man diesen vielleicht Jahrzehnte alten Konflikt in dieser Kurzform „einfach erklären und klarmachen“ (der Wortlaut des lbp) kann

  • zunächst gegenüber Erwachsenen gedacht?
  • gegenüber Jugendlichen, an die sich diese Unterrichtseinheit richtet?

Oben im Artikel schrieb ich, es handle sich um ein Beispiel von Unterrichts-Material, das keinesfalls einer breit informierenden, beschreibenden Art und Weise genüge. Anhand dieser und weiterer Fragen, die Sie selber hinzunehmen können und anhand der von Ihnen gefundenen Antworten können Sie zu einem eigenen fundierten Urteil kommen.

Anhang

Zu Frage 2: Kritische Stimmen zur NATO-Osterweiterung bzw. diplomatische Aussagen aus den Jahren 1990, 1991:

2.1 Quelle: freitag.de, Februar 2022, Autor Ted Galen Carpenter

Washingtons Umgang mit Russland war ein politischer Fehler epischen Ausmaßes

Ukrainekrieg Es war lange klar, dass die Expansion der NATO in den Osten zu einer Tragödie führen würde. Jetzt zahlen wir den Preis für die Arroganz der USA

Auszug

.….Analysten, die sich einer realistischen und zurückhaltenden US-Außenpolitik verschrieben haben, warnen seit mehr als einem Vierteljahrhundert davor, dass eine weitere Ausweitung des mächtigsten Militärbündnisses in der Geschichte auf eine andere Großmacht nicht gut ausgehen würde. Der Krieg in der Ukraine bestätigt endgültig, dass dies nicht der Fall war. „Es wäre außerordentlich schwierig, die NATO nach Osten zu erweitern, ohne dass dies von Russland als feindlicher Akt empfunden würde. Selbst die bescheidensten Erweiterungspläne würden das Bündnis bis an die Grenzen der alten Sowjetunion bringen. Einige der ehrgeizigeren Pläne würden dazu führen, dass das Bündnis die Russische Föderation selbst praktisch umschließt“……  Ich (Autor Ted Galen Carpenter) fügte hinzu, dass eine Erweiterung eine unnötige Provokation Russlands darstellen würde. ….

Strobe Talbott, stellvertretender Außenminister, ….: „Viele Russen sehen die NATO als ein Überbleibsel des Kalten Krieges, das sich gegen ihr Land richtet. Sie verweisen darauf, dass sie den Warschauer Pakt, ihr Militärbündnis, aufgelöst haben – und fragen, warum der Westen nicht das Gleiche tun sollte.“ Eine ausgezeichnete Frage, auf die weder die Clinton-Regierung noch ihre Nachfolger eine auch nur annähernd überzeugende Antwort geben konnten…..

George Kennan, (der geistige Vater der amerikanischen „Containment-Politik“ während des Kalten Krieges) warnte in einem Interview mit der New York Times im Mai 1998 scharfsinnig davor, was die Ratifizierung der ersten Erweiterungsrunde der NATO durch den Senat in Gang setzen würde: „Ich glaube, dass dies der Beginn eines neuen Kalten Krieges ist,“ meine Kennan. Und ergänzte: „Ich denke, die Russen werden mit der Zeit ziemlich negativ reagieren und es wird ihre Politik beeinflussen. Ich denke, es ist ein tragischer Fehler. Es gab überhaupt keinen Grund für diese Aktion. Niemand bedrohte einen anderen.“ Er hatte Recht. …...

Den Originalartikel Ignored Warnings: How NATO Expansions Led To The Current Ukraine Tragedy können Sie hier lesen.

2.2  Quelle Welt.de, 18.02.2022:

Vermerk eines deutschen Diplomaten – Archivfund bestätigt Sicht der Russen bei NATO-Osterweiterung

Auszug

2.3 Quelle Anti-Spiegel Online Magazin, anti-spiegel.ru; 15.05.2023 :

Interview bzw. Diskussion des Canadian Foreign Policy Institute mit Jeffrey Sachs, amerikanischem Wirtschaftswissenschaftler und Ivan Katchanovski, ukrainisch-kanadischem Politikwissenschaftler.  Z.B. spricht J.Sachs ab Minute 3 über seine frühere Beraterfunktion ehemaliger Präsidenten (M.Gorbatschow, L. Kutschma, W. Juschtschenko) und seinen daraus resultierenden Einblick, und zu Beginn von Minute 5 darüber, dass zuerst die Sowjetunion und später die Politiker Russlands vielfach klar aussprachen, die NATO dürfe nicht auf die Ukraine ausgedehnt werden. Und er fügt an, wir sollten umgekehrt überlegen, wenn China und Mexiko ein militärisches Bündnis starten würden, würden wohl weder die USA noch Canada in der Form reagieren, dass das deren (gemeint sind China und Mexiko) Entscheidung wäre.

2.4 Quelle: Die NATO – Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis von Sevim Dagdelen

Westend-Verlag 2024

Kapitel 1: Gebrochene Versprechen: …Baker selbst sagte bei dem Treffen am 9. Februar 1990 mit dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow, die NATO werde sich „nicht einen Zentimeter nach Osten“ ausbreiten. …. Kap.1 Anlage 3: National Security Archive, Washington:NATO Expansion: What Gorbachev heard – Declassified documents show security assurances against NATO expansion to Soviet leaders from Baker, Bush, Genscher, Kohl, Gates, Mitterrand, Thatcher, Hurd, Major, and Woerner (Freigegebene Dokumente offenbaren Sicherheitszusagen gegen eine NATO-Erweiterung an die sowjetische Führung durch Baker, Bush, …..).

Washington D.C., December 12, 2017 – U.S. Secretary of State James Baker’s famous “not one inch eastward” assurance about NATO expansion in his meeting with Soviet leader Mikhail Gorbachev on February 9, 1990, was part of a cascade of assurances about Soviet security given by Western leaders to Gorbachev and other Soviet officials throughout the process of German unification in 1990 and on into 1991, according to declassified U.S., Soviet, German, British and French documents posted today by the National Security Archive at George Washington University (http://nsarchive.gwu.edu). …..

2.5 Quelle  Hans-Dietrich Genscher im Interview mit der Schweriner Volkszeitung, 15.07.2015

….“An der polnischen Ostgrenze beginnt Osteuropa und nicht Westasien“, verdeutlicht Genscher. „Russland gehört zu Europa, man sollte es deshalb auch nicht aus Europa ausschließen.“

Der ehemalige Bundesaußenminister kritisiert die Haltung mancher Politiker im Westen, die die Beendigung des Kalten Krieges als eine Frage von Sieg oder Niederlage betrachtet hätten. „Für mich war die Wiederherstellung der Deutschen Einheit das Ende der Teilung Europas und nicht die Verlegung der Teilungsgrenze aus der Mitte des Kontinents nach Osten“, unterstreicht er.

Das liberale Urgestein betont außerdem die zentrale Bedeutung verlässlicher Aussagen und einer Atmosphäre des Vertrauens für diplomatische Erfolge. „Eine Politik des ‚Heute-so-und-morgen-anders‘ erweckt Misstrauen. Deshalb ist es entscheidend, dass Politiker ihre Worte genau wägen“, so Genscher. ..